(21.03.2020) Vor genau einem Jahr, über 30 Jahre nach dem Gladbecker Geiseldrama, wurde in Bremen Huckelriede ein Erinnerungsort für die Opfer geschaffen. Die 120 Zentimeter große Stele aus hellem Granit. In ihr wurde eine Bronzeplatte mit der Inschrift: "Im Gedenken an die Opfer der Geiselnahme von Gladbeck vom 16. bis 18. August 1988" eingelassen. Das Denkmal steht genau an dem Ort, an dem die Geiselnehmer Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner bei ihrer mehrtägigen Irrfahrt einen Bus gekapert. Der Fall hatte Deutschland im August 1988 tagelang in Atem gehalten.
Ergänzt wird der Satz um die Namen der Opfer des Geiseldramas: Silke Bischoff, Emanuele De Giorgi und Ingo Hagen, der in Ausübung seines Dienstes als Polizeibeamter auf der Fahrt zum Einsatzort verunfallt und an den Unfallfolgen verstorben ist.
Die Stele befindet sich auf einem Grünstreifen am Busbahnhof in Bremen-Huckelriede. Sie soll erinnern an das, was an dieser Stelle vor fast 32 Jahren geschehen ist. Denn hier am Busbahnhof Huckelriede haben 1988 zwei Bankräuber einen voll besetzten Linienbus in ihre Gewalt gebracht. Vorausgegangen war ein Überfall auf eine Bankfiliale im nordrhein-westfälischen Gladbeck. Dem folgte einer Verfolgungsjagd durch die Republik, bei der die Straftäter auch in Bremen Station machten. Anschließend setzten sie ihre Flucht auf der Autobahn A1 fort, nächste Station war die Raststätte Grundbergsee.
Zur Einweihung der Stele im März 2019 waren auch Angehörige der damaligen Opfer angereist sind. Die Gedenkstätte war seit 2018 geplant, als ein Story-Zweiteiler im ARD-Fernsehen, der die Ereignisse aus dem Jahr 1988 in Spielfilmform aufarbeitete, das Geschehen wieder ins kollektive Gedächtnis zurück rief.
Bei der Einweihung kam auch Johnny Bastiampillai, der damals als Siebenjähriger mit seiner Mutter in dem Linienbus in Huckelriede saß und eines der Opfer sterben sah. In seiner Ansprache forderte er deutlich, dass bei zukünftigen Ereignissen die Opfer nicht mehr alleine gelassen werden. Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (SPD) entschuldigte sich in seiner Rede vor einem Jahr bei den Opfern und Angehörigen für damaligen schweren Fehler, die während der Geiselnahme gemacht wurden:
"Völlig unbeteiligte Menschen sind Opfer einer Geiselnahme geworden. Uns fehlen bis heute die richtigen Worte für das, was damals geschehen ist. Aber die Ereignisse haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Bremerinnen und Bremer eingebrannt. Besonders aber haben sie das Leben der Betroffenen, ihrer Freunde, ihrer Angehörigen schlagartig und für immer verändert. Drei Menschen, Silke Bischoff, Emanuele De Giorgi und Ingo Hagen haben ihr Leben verloren. Andere haben an Körper und Seele gelitten, durch das, was sie erleben mussten. Heute, über dreißig Jahre später, kommt uns dies alles bedrückend nah. Wir haben uns hier versammelt, um der Opfer zu Gedenken und mit ihnen und den Angehörigen zu trauern.
Diese Geiselnahme hat Spuren in den Herzen der Menschen in Bremen und darüber hinaus hinterlassen. Um dies zu würdigen, haben die Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft und der Senat entschieden, die ständige Erinnerung an die Opfer der Geiselnahme von Gladbeck durch einen Erinnerungsort direkt hier an der Bushaltestelle zu ermöglichen. Manche Unterstützung kam spät und blieb unbefriedigend. Die Geiselnahme von Gladbeck steht dafür, dass in Medien und Öffentlichkeit den Tätern regelmäßig weit größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als den Opfern und ihren Angehörigen. Wie ich es im vergangenen Jahr getan habe, bitte ich Sie, die Betroffenen und ihre Angehörigen, auch im Namen des Senats der Freien Hansestadt Bremen, für die gemachten Fehler und Versäumnisse um Verzeihung."
Einsatzleitende wie auch die Politik schoben damals die Verantwortlichkeit hin und her und fällten zahlreiche folgenschwere Fehlentscheidungen. Vor allem wurden hinterher die Betroffenen und Hinterbliebenen allein gelassen. Dafür entschuldigte sich der Regierungschef. Später erfolgte keine Unterstützung der Opfer und ihrer Angehörigen.
Die Präsidentin der Bremischen Bürgerschaft Antje Grotheer referierte dann auch über die damaligen Abstimmungsfehler, Fehler der Medien und der Polizei. Intern seien solche Dinge aufgearbeitet worden, dabei habe man die Opfer jedoch vergessen.
Die vor einem Jahr in Huckelriede eingesetzte Stele soll die Erinnerung an das Geiseldrama, das nur wenige Meter von hier, direkt am Busbahnhof damals eine entscheidende Wendung nahm, wach halten. Nach der Ausstrahlung des TV-Films 2019, dessen Produktion seinerzeit von Radio Bremen in Auftrag gegeben wurde, gab es einen Antrag auf Anregung der CDU, hier in Huckelriede einen Erinnerungsort zu schaffen. Dieser wurde einstimmig in der Bürgerschaft einstimmig angenommen. Nach einer erstmaligen Kontaktaufnahme zu den Opfern und Hinterbliebenen folgte die erste öffentliche Entschuldigung der Regierungschefs von Bremen und Nordrhein-Westfalen.
Mit dem auf der Stele angebrachten QR-Code kann man sich vor Ort per Smartphone über die damaligen Ereignisse in Huckelriede informieren. Abrufbar sind hier unter anderem Bürgerschaftsdebatten zum Gladbecker Geiseldrama, Untersuchungsberichte zu Fehlern der Polizei und Kommentare zu Geschehen. Ein zur Enthüllung der Stele gepflanzter Ginkgobaum soll als Symbol für alle stehen, was Tod und Trauer überdauert.
Das Gladbecker Geiseldrama: Chronologie der Ereignisse
16.08.1988: Hans-Jürgen Rösner (31) und Dieter Degowski (32) überfallen im nordrhein-westfälischen Gladbeck eine Filiale der Deutschen Bank. Sie werden von der Polizei umstellt, nehmen sie zwei Angestellte als Geiseln. Die Medien sind von Anfang an hautnah dabei: "Hier ist Hans Meiser, Deutsches Fernsehen, kann ich bitte mit den Geiselgangstern sprechen?"
Mit Einbruch der Nacht dürfen sie mit den Geiseln in einem Fluchtwagen abziehen. In Gladbeck holen die Gangster Rösners Freundin Marion Löblich ab. Anschließend fahren sie zunächst quer durch das Ruhrgebiet, bis sie sich entscheiden, nach Bremen zu fahren, denn von hier stammt Marion Löblich.
17.08.1988: In Vegesack gönnen sich Rösner und Löblich Zeit für einen entspannten Bummel durch die Fußgängerzone. Degowski bewacht derzeit die beiden Geiseln im Auto. Doch die Polizei ist ihnen mittlerweile auf den Fersen. Die Beamten beobachten sogar, dass Degowski zwischenzeitlich das Auto verlässt, um zur Toilette zu gehen. Aber niemand gibt den Befehl zum Zugriff. Stattdessen gelingt es den Gangstern noch einmal, mit ihren Geiseln zu entkommen.
Doch die Verfolger lassen sich jedoch nur kurz abschütteln. Als Rösner und Degowski die Polizei bemerken, kommt es kurz nach 19 Uhr zu einer Kurzschlussreaktion: Am Busbahnhof Huckelriede kapern die Flüchtigen einen Bus der Linie 53 und bringen 32 Menschen in ihre Gewalt. Hier in Huckelriede werden die Geschehnisse zu einem medialen Ereignis, das es so noch nie gab. Schaulustige Bürger und sensationsfokussierte Reporter nähern sich dem BSAG-Bus. Die Polizei scheint nicht präsent. Und so genießen die beiden Geiselgangster die mediale Aufmerksamkeit.
Immer mehr Reporter wagen sich vor, Rösner gibt eine Art "Pressekonferenz". Rösner wird gefragt, wie lange sie die Geschichte noch fortsetzen wollen. Er genießt es, im Mittelpunkt zu stehen: "Wir sind jetzt seit über 30 Stunden auf der Flucht, und die verfolgen uns dauernd da, die Bullen, und die sind ziemlich fertig, die beiden Bankangestellten, und vor allem die Frau, die möchte nach Hause und so. Und wir waren heute bereit gewesen, beide wegfahren zu lassen. Wir hatten da so einen 230er-Mercedes, und da haben die uns aber dauernd verfolgt, und da konnten wir zu unserer Sicherheit eben nicht das Risiko eingehen, die laufen zu lassen. Und dann wollten wir den Mercedes geben, dass ihn abholen können, und wir wollten dann mit den anderen weg. Und dann kamen die uns wieder in die Quere. Wir waren also so ziemlich sicher, dass uns keiner verfolgt, und da haben wir sie doch gesehen."
Rösner wird noch gefragt, ob es nicht besser sei, aufzugeben. "Aufgeben auf keinen Fall. Ich kann Ihnen konkret sagen, wie das abläuft. Dann knallt es da drin. Und vor allem mein Kumpel ist brandgefährlich. Ich hab jetzt 11 Jahre Knast weg. Ich war von Anfang an im Erziehungsheim, und da solche Scheiße alles, und ich scheiß auf mein Leben. Und das mein ich ganz im Ernst."
Medienwirksam steckt sich Rösner den Lauf seiner Pistole in den Mund. Was mit den unschuldigen Menschen ist, wird er gefragt.. Rösner zuckt mit der Schulter. "Kann ich nichts für". Immer wieder versuchen die Geiselnehmer, mit der Polizei zu verhandeln, doch alle Versuche schlagen fehl: Niemand in der oberen Führungsetage scheint sich zuständig zu fühlen. Überhaupt agiert der gesamte Bremer Polizeiapparat kopflos. Es ist kein Konzept erkenntbar. So versucht ein Reporter, für die Gangster Kontakt zur Polizei herzustellen, doch unter der angerufenen Nummer geht niemand ans Telefon.
Rösner wird derweil zusehends aggressiver. Immer wieder hält er der achtjährigen Tatiana de Giorgi, die zusammen mit ihrem Bruder Emanuele im Bus sitzt, seine Waffe an den Kopf. Er droht, sie zu erschießen, wenn nicht bald jemand mit ihm Kontakt aufnimmt. Als es dunkel ist, setzt sich der Bus schließlich in Bewegung.
Verfolgt von der Polizei, steuert der Bus mit den Gangstern und ihren Geiseln auf die Autobahn. Im Schlepptau befindet sich ein ganzer Pulk von Reportern. Der Polizeibeamte Ingo Hagen kommt während der Verfolgung bei einem Verkehrsunfall ums Leben. An der Raststätte Grundbergsee an der A1 bei Sottrum in Niedersachsen machen die Entführer kurz nach 23 Uhr Halt. Rösners Freundin Marion Löblich muss zur Toilette.
Auch hier gehen Reporter zu den Geiselnehmern und verhandeln. Sie erreichen, dass die beiden erschöpften Geiseln aus der Gladbecker Bank freikommen. Derweil müssen andere Geiseln für Interviews herhalten. Vor laufender Kamera fragt ein Reporter Silke Bischoff: "Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?" Die 18-jährige, von Degowski mit einer Waffe bedroht, versucht zu lächeln. Es gehe ihr "eigentlich ziemlich gut", sagt sie. Sie könne sich nicht vorstellen kann, dass er wirklich abdrücken würde.
Dann eskaliert das Drama. Polizeibeamte haben Löblich auf der Toilette überwältigt und festgenommen - offenbar eigenmächtig, denn wer das Kommando dazu gab, ließ sich nie klären. Rösner rastet daraufhin aus. Wenn seine Freundin nicht in fünf Minuten freigelassen werde, müsse eine Geisel sterben. Die Polizei gibt nach. Doch der Schlüssel für die Handschellen bricht ab. Die Freilassung verzögert sich. Da schießt Degowski dem 15-jährigen Emanuele de Giorgi vor den Augen seiner kleinen Schwester in den Kopf. Reporter tragen den Schwerverletzten aus dem Bus. Einer von ihnen hält den Kopf des Jungen noch in die Kamera. Ein weiterer verhängnisvoller Fehler der Einsatzleitung wird offenbar. Es befindet sich kein Rettungswagen vor Ort. De Giorgi verblutet.
Noch einmal fährt der Bus davon, dieses Mal Richtung Niederlande. Dort tauschen die Gangster den Bus gegen einen von der Polizei gestellten, präparierten BMW ein und lassen die meisten Geiseln frei. Zwei Bremer Mädchen aus dem Bus, Silke Bischoff und ihre Freundin Ines Voitle, bleiben jedoch in ihrer Hand. Die Geiselnehmer fahren zurück nach Deutschland.
In Wuppertal besorgen sie sich am Morgen des 18. August aus einer Apotheke Aufputschmittel, fahren weiter nach Köln. Dort wird das Fahrzeug der Entführer in der Innenstadt von Schaulustigen und Reportern umlagert. Die Täter geben ausführliche Interviews und fahren später auf die Autobahn A3 mit Ziel Frankfurt am Main. In der Nähe von Bad Honnef endet am Mittag schließlich ein Befreiungsversuch der Polizei in einer Tragödie. Silke Bischoff stirbt durch eine Kugel aus Rösners Waffe. Ines Voitle springt aus dem Wagen und bleibt weitgehend unverletzt.
Hans Jürgen-Rösner und Dieter Degowski werden am 22.03.1991 zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei einem Haftprüfungstermin am 14.08.2013 entscheidet das Gericht, dass Dieter Degowski in den folgenden Jahren durch Haftlockerungen auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden soll. 2017 darf Degowski das Gefängnis als Freigänger erstmals stundenweise verlassen, im Februar 2018 wird er nach fast 30 Jahren Haft freigelassen. Sein Komplize Rösner verweigert sich hingegen jeder Therapie. Seine Entlassung wäre 2016 theoretisch möglich gewesen, allerdings ist im Urteil gegen ihn weitere Sicherungsverwahrung angeordnet worden.